Heute schon ans Übermorgen denken

Was tun, wenn die Digitalisierung das eigene Geschäftsmodell verdrängt? Darüber macht sich der Schuhmaschinenproduzent Desma schon länger Gedanken – und kommt zu erstaunlichen Schlüssen: Angriff heißt die Devise.

Wer von Christian Decker begrüßt wird, bemerkt unweigerlich, dass der erste Blick des Desma-Geschäftsführers den Schuhen seines Gegenübers gilt – eine Art Berufskrankheit. Decker ist so etwas wie der Visionär des Weltmarktführers aus Achim, ein Vordenker, der heute schon ans Übermorgen denkt. Der Maschinenbauer beschäftigt sich liebend gerne mit neuen Technologien und hat im Unternehmen bereits vor Jahren ein „Innovation Center“ gegründet, hier tüfteln er und sechs weitere Spezialistinnen und Spezialisten an der Zukunft der Schuhmaschine und den komplexen Fertigungsverfahren dahinter.

Oder besser gesagt: An einer Zukunft ohne Schuhmaschine. „Der Trend geht zu immer kleineren Stückzahlen pro Schuhdesign, die Modetrends werden immer schnelllebiger. Der letzte Schritt in dieser Kette ist der 3D-Druck, die Möglichkeit, jeden Schuh individuell zu fertigen, nach eigenen Wünschen“, prophezeit Decker.

Das eigene Geschäftsmodell hinterfragen

Eine Entwicklung, die starke Umsatzeinbußen für den Schuhmaschinenproduzenten bedeuten könnte. Sind Schuh-3D-Drucker künftig weit verbreitet, geht der Bedarf an Maschinen von Desma zurück. Aus diesem Grund tüfteln Decker und sein Team daran, das eigene Produktportfolio und die Zukunft des 3D Drucks mitzugestalten.

Und dabei hält er sich an die ganz Großen: Zusammen mit dem US-amerikanischen Computerhersteller HP hat er die „Fitstation“ entwickelt. Eine Cloud-Plattform mit angeschlossener Hardware, welche den Fuß vermisst und analysiert, daraus ein ideales Schuhprofil erstellt und dieses in einer Cloud speichert. „Später kann die Kundin oder der Kunde mit seinem Profil zu einem 3D-Drucker oder Onlinestore gehen und perfekt sitzende Schuhe bestellen – egal, wo auf der Welt, jedes Paar ein Unikat“, träumt Decker.

Mann stellt Schuhe am Bildschirm vor
Bild: DESMA

Maschinenbauer und Datenkonzern

Gleich mehrere Dinge sind an dieser Neuentwicklung erstaunlich. Erstens: Das Geschäftsmodell dahinter – die Vermessung und Speicherung der Fußmaße – ist rein datenbasiert. Zweitens: Sie zielt auf den Endkunden ab, gelinde gesagt ungewöhnlich für einen Sondermaschinenbauer.

„Wir wollen künftig an jedem Schuh verdienen, egal, ob er auf einer Desma-Maschinen produziert wird oder auf einem 3D-Drucker. Deshalb bauen wir eine Plattformlösung und deshalb wenden wir uns dem Endkunden-Geschäft zu. Nur so können wir weiterbestehen“, sagt Decker. Eine Textbuchlösung, wie sie aus dem Silicon Valley stammen könnte – auch deshalb hat er sich einen Riesenkonzern aus dem Techtal als Partner gesucht.

Es sind Sätze wie jene, die zeigen, warum man den Geschäftsführer und Sneakerfan Decker als Visionär bezeichnen könnte. Er hat das Credo des Silicon Valley verinnerlicht: Daten sind das neue Gold und in Zeiten der Netzwerkökonomie gewinnt derjenige, welcher die erfolgreichste Plattform aufbaut – sei es Facebook, Amazon oder eben die Cloud für Schuhmaße.

Und warum beim Fuß aufhören? Decker kann sich problemlos vorstellen, eines Tages den ganzen Körper zu vermessen, digital zu speichern und eine Art App-Store für individualisierbare Kleidung zu erfinden. „Keiner erwartet, dass so etwas von einem kleinen Maschinenbauer ausgeht. Aber warum nicht? Nur so bleiben wir am Ball“, sagt er.

Die Schuhwelt verändert sich

Begeisterung für neue Technologien begleitete Decker schon immer als Student experimentierte er mit den ersten weltweit verfügbaren 3D-Druckern im Bremer Institut für Produktion und Logistik, BIBA. Neben der Neugier treibt ihn auch wirtschaftlicher Druck an. Die Schuhproduktion ist ein hartes Geschäft, Schuhhersteller versuchen, so günstig wie möglich zu produzieren. Und der Konkurrenzdruck nimmt zu.

Deshalb müssen die Maschinen immer effizienter werden, Automatisierungslösungen, die auf digitale Technologien setzen, gibt es bei Desma bereits lange. „Wir verkaufen Effizienz und dazu gehört heute die volle Digitalisierung der Produktion. Dazu haben wir schon vor Jahren die Weichen gestellt und entwickeln die Technologie stetig weiter“, so Decker. „Aber in Zukunft wird das nicht mehr reichen. Die Zukunft gehört neuen Technologien. Digitalisierung ist mehr als ein Computer in der Produktionshalle – deshalb setzen wir auf 3D-Druck und digitale Plattformen.“

Frau geht Barfuss über eine Messstrecke
Bild: DESMA

Zukunftsmusik komponieren

Freilich – vieles davon ist noch Zukunftsmusik. Die „Fitstation“ steckt in den Kinderschuhen und Deckers Ideen benötigen noch Jahre, bis sie Realität werden. „Man kann den Hebel nicht sofort umlegen. Es braucht Zeit, bis sich neue Prozesse durchsetzen, nicht nur bei den Kunden, auch im eigenen Unternehmen“, sagt er. Bisher verlässt sich Desma noch auf das Schuhmaschinengeschäft, die Zukunftsvisionen tragen sich heute noch nicht selbst. „Wir brauchen einen langen Atem“, gibt er zu.

Damit ihm nicht zwischendurch die Puste ausgeht, setzt Decker alles daran, für seine Visionen zu werben. „Der Antrieb muss von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern selbst kommen. Ich möchte die Menschen mitnehmen und versuche, Enthusiasmus für Neues zu wecken.“

Für Nachwuchs sorgen

Dazu setzt er auch auf junge Talente: Im Summer TechCamp erhalten Schülerinnen und Schüler drei Tage lang in den Sommerferien Einblick in den modernen Maschinenbau, ins Programmieren, ins Design und in neue Technologien wie Virtual Reality. „Wir brauchen kreativ denkende Menschen. Deshalb organisieren wir das Camp oder gehen in Schulen, um Neugier für das Thema zu wecken“, schildert er.

Eine weitere Idee von Decker befindet sich gerade in Entwicklung: Ein Start-up Campus auf dem Gelände des Schuhmaschinenherstellers, in dem sich junge Unternehmen günstig einmieten können. „Die Idee ist, gegenseitig voneinander zu profitieren: Wir geben unsere Erfahrungen und Kontakte weiter, Start-ups bringen neue Ideen ein“, stellt es sich Decker vor.

Eine Zukunft braucht diejenigen, die sie umsetzt

Der Blick hinter die Kulissen von Desma zeigt: Eine erfolgreiche digitale Transformation hängt immer von Menschen ab. Von denen, die eine Vision haben und in ihrem Unternehmen umsetzen möchten – aber auch bereit sind, Wissen und Ideen von außen zuzulassen und zu integrieren.

Digitalisierung ist eben nicht der neue Computer in der Werkhalle, der Klemmbrett und Stift ersetzt. Das ist lediglich ein Baustein auf dem Weg hin zu einem neuen digitalen Geschäftsmodell. Die Kernfrage ist eine andere: „Was könnte geschehen, damit wir in zehn oder zwanzig Jahren nicht mehr gebraucht werden? Welche Technologien müssen erfunden werden, welche gesellschaftlichen Veränderungen geschehen? Diese Entwicklung müssen wir vorwegnehmen, daran müssen wir uns jetzt setzen!“, fasst es Decker zusammen. Denn jemand anderes arbeitet ganz sicher schon daran.

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